Digital Gedenken: Selbstbestimmt Erinnern an Opfer rechtsextremer Gewalt
Belltower.News
Das Kartographie-Projekt zeigt Erinnerungsorte für Opfern rechtsextremer Gewalt, hier in Solingen. (Quelle: Screenshot von WIR SIND HIER)„WIR SIND HIER“ ist keine gewöhnliche Internetseite, sondern ein Kartographie-Projekt, das eine andere Realität vorstellbar macht. Digitale Erinnerungsorte für Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt laden dazu ein, sich vorzustellen, wie deutsche Städte aussehen würden, wenn diese Orte auch im öffentlichen Raum existierten. Videos, unterlegt mit Tonaufnahmen von Betroffenen und Angehörigen, fangen die Stimmen derer ein, die oftmals jahrelang für Erinnerungsorte und Anerkennung kämpfen müssen. Die Künstlerin Talya Feldman und die Sozialwissenschaftlerin Rachel Spicker von der Soligruppe 9. Oktober wollen mit ihrem Projekt ein selbstbestimmtes Erinnern möglich machen. Ein Gespräch.
Belltower.News: Erinnern und Gedenken kann vieles bedeuten. Staatliches und institutionalisiertes Gedenken ist dabei meistens am präsentesten. Was bedeutet Gedenken für euch?
Talya Feldman: Gedenken heißt für jeden etwas anderes, ist dynamisch und verändert sich ständig. Die Tatsache, dass unser Projekt digital ist, bedeutet, dass wir es dem Wandel der Zeit anpassen können. Wenn zum Beispiel eine Familie, mit der wir zusammenarbeiten, sich an jemanden auf eine bestimmte Art und Weise erinnern möchte, bedeutet das nicht, dass sie sich in einem Jahr oder einem Monat auf dieselbe Weise an diese Person erinnern möchten. Das können wir dann auf der Website ändern. Sie ist ein bewegliches, lebendiges Archiv dieser Stimmen, ihrer Erinnerungen, des Aktivismus und des Kampfes um Gerechtigkeit und Aufklärung.
Rachel Spicker: Dabei ist zentral, dass das Gedenken selbstbestimmt ist. Denn öffentliches Gedenken ist oft mit politischen Abhängigkeiten verbunden. Die will unser Projekt durchbrechen. Es soll aber auch möglich machen, dass Menschen, die jemanden durch diese Gewalt verloren haben, überhaupt darüber nachdenken können, was es für sie bedeutet, selbstbestimmt und nicht fremdbestimmt zu erinnern.
Wie setzt ihr diesen Anspruch um?
R.S.: Wir schauen uns Orte an, die für die Emordeten, in ihrem Leben Bedeutung hatten. Wir haben zum Beispiel mit Gisela Kollmann gefilmt, das ist die Großmutter von Guiliano Kollmann, der 2016 beim OEZ-Attentat in München ermordet wurde. Sie war eine der Ersten, die erzählt hat, dass so viele Menschen sie gefragt haben, wie Guiliano gestorben ist, aber keiner, wie er gelebt hat. Wir haben dann am Jugendzentrum gefilmt, wo Guiliano viel Zeit mit seinen Freunden verbracht hat und bei seinem Fußballverein, in dem er gespielt hat.
T.F.: Gleichzeitig gibt es Familien, für die es wichtig ist, auch die Orte zu beanspruchen, an denen ihre Liebsten gestorben sind, an denen das Unrecht geschehen ist. Mamadou Saliou Diallo, der Bruder von Oury Jalloh sagt: Es kann kein Gedenken geben, solange es keine Gerechtigkeit gibt. Deswegen ist für ihn im Rahmen des Projekts der Raum, den er für sich beanspruchen will, die Polizeistation Dessau, auf der sein Bruder getötet wurde. Beides zeigt, wie unterschiedlich die Wahl der Orte und die Form der Erinnerung aussehen kann.
Am 29. Mai 1993 wurden in Solingen bei einem rassistischen Brandanschlag auf das Wohnhaus der Familie Genç fünf Frauen und Mädchen ermordet: Gürsün İnce (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). Weitere Familienmitglieder erlitten lebensgefährliche Verletzungen. Über 30 Jahre ist der Brandanschlag nun her und am 29. Mai. 2025 findet vor dem Grundstück des abgebrannten Hauses der Familie Genç von 14:00 bis 17:00 Uhr eine Gedenkveranstaltung statt. Auch das digitale Erinnerungsprojekt von Talya Feldman und Rachel Spicker erinnert an den rassistischen Anschlag:
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Credits für das Video:
WIR SIND HIER: Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç, Saime Genç, Film Still, Courtesy of the Artist Talya Feldman
Was war der ausschlaggebende Impuls, Erinnerung nicht nur auf die Straßen zu bringen, sondern sie zusätzlich in den digitalen Raum zu verlagern, um zu zeigen, was im öffentlichen Raum möglich wäre?
T.F.: Vor ein paar Jahren stieß ich auf eine technische Panne auf einer Wohnungsfinder-Website in den USA. Auf der Website konnte man verfügbare Wohnungen finden, indem man auf eine Stadtkarte ging und wenn man hineinzoomte, sah man die Umrisse aller Gebäude in der Stadt. Als die Störung auftrat, konnte man in den Städten sehen, wo einmal Häuser standen und wo nicht mehr. Plötzlich wurde diese Website, die eigentlich zur Wohnungssuche gedacht ist, zu einem aktivistischen Instrument, das zeigte, wie Stadtteile gentrifiziert und Menschen im Laufe der Zeit aus ihren Häusern verdrängt wurden. Diese Karte zeigt, wie unsere Städte früher aussahen und ich habe mir überlegt, was passieren würde, wenn wir eine Karte hätten, die uns zeigt, was sein könnte. Dann kam mir die Idee von einer Website, die abbildet, wie unsere Städte aussehen würden, wenn wir uns die Zeit nehmen würden, auf die von rechtsextremer Gewalt Betroffenen zu hören. Das bedeutet, auf ihre Wünsche, auf ihre Hoffnungen und auf das, wofür sie an den jeweiligen Orten kämpfen, einzugehen: Erinnerung als aktive Form der Veränderung.
R.S.: Ergänzend dazu waren wir mit vielen Familien schon bevor es dieses Projekt gab in Kontakt. Wir haben uns gegenseitig bei Gedenkveranstaltungen besucht und uns auf Netzwerktreffen zu den Fragen Gedenken und Erinnern ausgetauscht. Dabei haben wir häufig festgestellt, dass selbstbestimmtes Gedenken und Erinnern ein jahrzehntelanger Kampf sein können. Ein Beispiel ist die Kölner Keupstraße. Dort wird seit Jahren um einen Gedenkort an das NSU-Attentat von vor über 20 Jahren gerungen. Mit unserem Projekt ermöglichen wir sowas wie eine Zukunftsvision, die von politischen Entscheidungen, Behörden und Verwaltung unabhängig ist. Orte, die schon so lange umbenannt werden sollten oder dieses Mahnmal, was schon so lange errichtet werden sollte, werden digital möglich. Das motiviert auch Angehörige und Überlebende, sich weiterhin einzusetzen. Es ist eine andere Form der Selbstermächtigung, sich das, was einem verwehrt wird, gewissermaßen selbst zu nehmen. Es ist ein Gegenentwurf zu den gängigen ritualisierten Formen des Gedenkens, die oft an Abhängigkeiten geknüpft sind.
Neben der Möglichkeit eines Gegenentwurfs zu institutionalisierten und abhängigen Gedenken – Was sind die Vorteile von Erinnerung im Digitalen?
R.S.: Es gibt Angehörige und Überlebende, die noch nicht öffentlich sprechen wollen oder es nicht können. Der digitale Raum kann wiederum eine andere Form der Verbundenheit schaffen. Häufig inspirieren sich Menschen gegenseitig, wenn sie sehen, was an anderen Orten möglich ist. Außerdem ist Erinnern im Digitalen zugänglicher: Wenn man zum Beispiel nicht die Möglichkeit hat, zu den Gedenkveranstaltungen in den verschiedenen Städten zu fahren, dann kann der digitale Raum ein Ort sein, an dem selbstbestimmtes Erinnern sichtbar wird. Erinnern wird erfahrbar.
Ihr arbeitet sehr eng mit den Angehörigen und Betroffenen rechten Terrors und rassistischer Polizeigewalt zusammen, welche Erfahrungen habt ihr gemacht?
T.F.: Die Beziehungen, die wir aufbauen, sind der wichtigste Teil des Projekts. Sie sind sogar noch wichtiger als die Videos und die Website. Denn allzu häufig wird nicht auf die Familien zugegangen. Viele werden vergessen, nicht gehört oder nicht einmal anerkannt. Man kann nicht nur an Gedenktagen präsent sein und das war’s dann, sondern es muss dauerhaft Unterstützung und Verbundenheit geben. Genauso wichtig ist es immer auf dem Schirm zu haben, dass es eine große Verantwortung und Vertrauensvorschuss ist, Zeit mit den Familien zu verbringen und gemeinsam mit ihnen an diesem Projekt zu arbeiten. Meistens kommen die Angehörigen mit uns an die Orte, an denen wir filmen und häufig ist es das erste Mal, dass sie diese Orte wieder betreten, seit sie die Person, die sie lieben, verloren haben. Dieses Vertrauen wird oft von Medienschaffenden und auch von Künstler*innen gebrochen.
R.S.: Deshalb ist es für uns sehr wichtig, dass wir im Projekt präsent sind und in ständiger Kommunikation mit den Familien stehen. Dadurch, dass Erinnern dynamisch ist, kann es immer Veränderungen unterliegen. Das heißt, sobald sich Angehörige entscheiden, einen anderen Ort für sich als Erinnerungsort zu beanspruchen, machen wir das möglich und verändern das Video, das Audio und den Text.
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