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#HörspieldesJahres

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Hörspiel des Jahres 2024

Im Auge des Sturms – Das Kapitol am 6. Januar 2021

von Maxi Obexer

Regie: Gerrit Booms; Regieassistenz: Julia Kiefer
Mit: Victoria Trautmannsdorff, Hans-Gerd Kilbinger, Claudius Steffens, Sabrina Ceesay, Enno Kalisch, Friederike Linke, Glenn Goltz, Mi Hae Lee
Besetzung: Ulrich Korn
Technische Realisation: Werner Jäger, Barbara Göbel
Dramaturgie: Isabel Platthaus
Produktion: WDR 2024
Ursendung: WDR 5, 07.01.2024, Länge: ca. 53‘

Die Begründung der Jury

Das Hörspiel kann alles sein. Denn seine junge Geschichte schreibt ihm keine Tradition und keine geprägte Form vor. Jedes Projekt kann in alle Richtungen gehen, sich geschmeidig an andere Gattungen anlehnen oder nie Gehörtes hervorbringen. Wir haben im 100. Hörspiel-Jubiläumsjahr sinnreich mit Musik unterstützte Radioessays gehört, ein Radiomusical, Filme für die Ohren und vieles mehr. Dieses offene Feld ist ein kostbares Kreativlabor, wie sich eindrücklich zeigte, und wir wünschen dem Hörspiel und seinen „Zaubereien auf den Sendern“ eine reichhaltige und weiterhin überraschende Zukunft.

Wir haben uns für eine Produktion entschieden, die zwischen O-Ton-Reportage, politischem Essay und Krimispannung oszilliert. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir die Wahl auch unter dem Eindruck aktueller politischer Geschehnisse getroffen haben. Der 47. amerikanische Präsident ist mit seiner Amtseinführung im Januar 2025 als erster verurteilter Straftäter im Amt in die Geschichtsbücher eingegangen. Vier Jahre zuvor, im Januar 2021, nahm er bei den Geschehnissen rund um den „Sturm aufs Kapitol“ eine zentrale Rolle ein, als er seine Fans bei einer Kundgebung dazu aufrief, die Pennsylvania Avenue hoch zum Kapitol zu ziehen, um gegen den vermeintlichen Betrug nach seiner verlorenen Wahl zu demonstrieren.

Schrecken, Morddrohungen und Chaos sind die Folge, fünf Menschen sterben. Es tagt an diesem Tag der Kongress, um den letzten Schritt vor der Ernennung des neuen US-Präsidenten Joe Biden zu vollziehen: die Anerkennung der Wahlergebnisse, welche zuvor Gegenstand 50 verlorener Prozesse des Trump-Lagers waren. „Wir werden nie aufgeben“, sagt Donald Trump zu den Anhänger*innen, „wir werden nie eine Wahlniederlage anerkennen“.

Maxi Obexer hat die Geschehnisse als kinoreifes Politevent erkannt und daraus ein dokumentarisches Stück mit Pathos und Drive geformt. Es führt uns die Funktionsweisen und politischen Denkmuster eines Systems vor Augen, das sich anfällig für Bruchstellen zeigt. Sorgfältig hat sie die dokumentierten O-Töne der US-Abgeordneten zusammengesetzt, übersetzt und eingeordnet und fasst zusammen, wie sich die Stunden im Inneren des Machtzentrums dieser großen und mächtigen Demokratie dargestellt haben.

Entstanden ist ein Hörspiel, das, trotz seiner Bezugnahme auf ein vergangenes Ereignis ins Heute wirkt, indem es eindrücklich zeigt, in welch kurzer Zeit ein so wichtiges System von „funktionierend“ zu „dysfunktional“ kippen kann und wie Ordnung, Gesetze und Staatsgewalt von einem Moment zum nächsten in Chaos und Gewalt versinken. Das Ruder herumreißen können die Mitglieder des Kongresses, indem sie trotz aller Widerstände – von innen, durch Einsprüche gegen die  Wahlergebnisse, von außen, durch randalierende Demonstranten – miteinander im Gespräch bleiben. Das Prozedere, das für die Ernennung des neuen Präsidenten nötig ist, muss absolviert werden und so holen die Politiker*innen die Demokratie zurück in den Saal, indem sie stoisch und bis mitten in die Nacht hinein „zurück an die Arbeit gehen“. Das alles lebt natürlich auch vom amerikanischen Pathos der Redebeiträge, der Leidenschaft, mit der hier Demokraten und Republikaner um ihr ganz eigenes Verständnis von Glanz und Vaterland streiten.

Dieses Hörspiel demonstriert die gefährliche Macht rhetorischer Manipulation und die Verantwortung politischer Führer für die Folgen ihrer Worte. Der Sturm auf das Kapitol verdeutlicht die tiefe Spaltung einer Gesellschaft und die Fragilität demokratischer Prozesse, selbst in etablierten Demokratien. Maxi Obexer hat geschafft, nicht nur die historische Vorlage als dankbare Dramaturgie zu erkennen und zu nutzen, sondern sie so zusammenzustellen, dass die Essenz der Ereignisse zugespitzt, auf den Punkt gebracht und greifbar wird. Nicht nur das empörende Skandalon wird erlebbar, sondern auch die Kraft der vernünftigen Verständigung in demokratischen Prozessen. Und diese Lektion – so scheint uns – haben wir in der kommenden Zeit bitter nötig. Deshalb wird „Im Auge des Sturms“ Hörspiel des Jahres 2025.

Im Auge des Sturms – Das Kapitol am 6. Januar 2021

Die dreiköpfige Jury bestand aus Clara Gauthey (Kulturredakteurin beim Bieler Tagblatt), Claude Pierre Salmony (Hörspielredakteur, -dramaturg, -regisseur) und Maria Ursprung (Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin des Theater Marie).

Preisverleihung

Am Freitag 21. Februar 2025 findet die Preisverleihung zum Hörspiel des Jahres im Kino Rex in Bern statt. Die Auszeichnung der DADK wird im Rahmen des SONOHR Festivals verliehen.

Ort: Kino Rex, Schwanengasse 9, CH-3011 Bern
Termin: Freitag, 21.02.2025, 19.30 Uhr Festivalbeginn SONOHR,
20.30 Uhr Apéro,
21-22.15 Uhr Preisverleihung Hörspiel des Jahres 2024.
Das Hörspiel wird in Gänze zu hören sein.

Die Hörspiele des Monats 2024:

Januar: Maxi Obexer: Im Auge des Sturms – Das Kapitol am 6. Januar 2021 (WDR)
Februar:Erwin Koch: Fünf beste Tage (SRF)
März: Wilhelm Genazino: Nie! Nie! Nie! (SWR)
April: Alexander Kluge: Der Stein in der Tasche (BR)
Mai: Luise Voigt: Raumzeit (HR/DLF Kultur)
Juni: Tucké Royale: Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet (RBB)
Juli: Leonie Lorena Wyss: Blaupause (NDR)
August: Ephraim Kishon und Friedrich Torberg: Mein Sohn, Nephew und Bács! (ORF)
September: Jana Scheerer: Die Rassistin (MDR)
Oktober: Maxim Biller: Kein König in Israel (SWR)
November: Gesche Piening: Die Könige spielen die anderen (DLF Kultur)
Dezember: Gesche Piening: Sei unser sicher sicher von

 

 

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Neuaufstellung der Initiative „Hörspiel des Monats“ ab 2025

Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste (DADK) wird ihre Initiative „Hör-spiel des Monats“ (seit 1977) und „Hörspiel des Jahres“ (seit 1987) ab 2025 neu ausrichten. Die Auszeichnung wird vom monatlichen Rhythmus der Ursendungen entkoppelt. Der Deutschlandfunk, der das Hörspiel des Monats bisher mit dreimonatiger Verzögerung jeweils am ersten Samstag des Monats um 20.05 Uhr ausstrahlte, wird das weiterhin tun – nur ohne die Verzögerung. Das letzte Hörspiel des Monats vom Dezember 2024 wird am 1. März gesendet. Im Jahr 2025 wird es also nur neun statt zwölf Hörspiele des Monats geben.

Außerdem wird es nur noch zwei statt drei Juroren geben, die wie bisher im jährlichen Wechsel von einem „gastgebenden Sender“ nominiert werden. 2025 sind dies Laila Stieler und Sebastian Krumbiegel, gastgebender Sender ist der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR). Der Westdeutsche Rundfunk, der schon bei der Abschaffung des Deutschen Hörspielpreises der ARD eine unrühmliche Rolle gespielt hat (Interview mit Martina Müller-Wallraf im WDR-5-Magazin „Scala“ vom 27.3.24, ab Minute 14:00), ist aus dem Wettbewerb ausgestiegen. Damit können Produktionen des WDR nicht mehr als Hörspiele des Monats oder als Hörspiel des Jahres ausgezeichnet werden.

Hier die Dokumentation der Pressemitteilung der DADK vom 13. Dezember 2024.

„Die Veränderungen in den Sendeanstalten, die Gründung einer ARD-weiten Gemeinschaftsredaktion Hörspiel und die für das Hörspiel im Mittelpunkt stehenden digitalen Ausspielwege, machen ein Umdenken und eine Anpassung an die veränderte Situation erforderlich“, so Barbara Schäfer, die als Mitglied des Akademiepräsidiums für diese Kunstsparte verantwortlich zeichnet. „Gleichzeitig gibt es in der Akademie und mehr-heitlich auch in den Hörspielredaktionen ausdrücklich den Wunsch, dem Hörspiel als Kunstform in der Darstellenden Kunst weiterhin besondere Aufmerksamkeit zu zollen.“

Seit 1977 richtet die Akademie den Wettbewerb zum Hörspiel des Monats aus, seit 1987 das Hörspiel des Jahres. Zunächst auf die Landesrundfunkanstalten und Deutschlandradio als einreichungsberechtigte Sender beschränkt, kamen 2019 SRF und ORF hinzu. Ab 2025 werden diese Beteiligten nun ohne den WDR, der nicht mehr teilnehmen wird, um die Auszeichnung konkurrieren.

Bereits in den letzten Jahren hat sich abgezeichnet, dass die Anzahl der Einreichungen zurückgeht und von Monat zu Monat sehr stark schwanken kann. Die bisherige Beschränkung einer einmaligen Einreichung bei Erstausstrahlung macht zudem im Zeitalter von Audiotheken immer weniger Sinn. So hat sich die DADK entschieden, einen Jahrgangspool der Hörspielproduktionen einzurichten, der von den Redaktionen ohne Einschränkung auf Anzahl oder Sendedatum ganzjährig befüllt wird.

Es können Einzelhörspiele, max. 3-teilige Mehrteiler und von Serien max. 3 Teile einer Staffel eingereicht werden. Eine zweiköpfige Jury wird zukünftig daraus monatlich ein Hörspiel des Monats auswählen. Ausgezeichnet werden die Hörspielschaffenden, also Autor:innen, Regisseur:innen, Sprecher:innen, Komponist:innen.

Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste sichert damit die Fortsetzung einer Hörspielauszeichnung und bekennt sich ausdrücklich zu dieser Kunstsparte. „Nach der Abschaffung des Deutschen Hörspielpreises der ARD und der Aussetzung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für 2024 setzen wir ein wichtiges Signal“, sagt Barbara Schäfer.

Das neue Verfahren gilt ab März 2025, wo die beiden neuen Jurymitglieder, der Musiker Sebastian Krumbiegel und die Drehbuchautorin Laila Stieler, beim Gastgeber MDR im zweimonatigen Rhythmus zum ersten Mal über das Hörspiel des Monats und zum Jahresende auch über ein Hörspiel des Jahres entscheiden werden.

Auf die Juryarbeit 2025 freuen sich:

Laila Stieler, geboren 1965 in Neustadt an der Orla, lebt in der Uckermark. Sie ist Drehbuch- und Hörspielautorin, Dramaturgin und Filmproduzentin. Sie ist die Verfasserin bzw. Mitverfasserin u.a. zahlreicher Drehbücher zu den Filmen von Andreas Dresen. Nach dem Abitur arbeitete sie bei „Elektrokohle Lichtenberg“, absolvierte ein Volontariat beim Fernsehen der DDR und studierte bis 1990 Dramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Babelsberg.
Seit 1988 erhalten ihre Arbeiten und Produktionen zahlreiche Auszeichnungen wie den Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Goldenen Löwen, den Silbernen Bären der Berlinale, den Preis der Deutschen Akademie für Fernsehen und den Bayerischen Fernsehpreis.

Zu ihren beim Publikum sehr bekannten Arbeiten gehören „Gundermann“, „In Liebe, Eure Hilde“, „Lola“, „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, „Tina mobil“. Laila Stielers Hörspiele entstanden 2012-2024 in Zusammenarbeit mit dem RBB und der Hörspielregisseurin Judith Lorentz: „Ick bin nu mal Friseuse“, „Die Lehrerin“, „Vergesst mich nicht“ nach Motiven des Buches „Schmerzliche Heimat“ von Semiya Simsek und Peter Schwarz, „In Liebe, Eure Hilde!“.

Sebastian Krumbiegel, geboren 1966 in Leipzig, lebt in seiner Heimatstadt und ist als Solokünstler und Autor aktiv. Mit der Band „Die Prinzen“ wurde Sebastian Krumbiegel zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Popstars. Er stammt aus einer hochmusikalischen Familie, besuchte die Thomasschule zu Leipzig, sang im Thomanerchor und gründete schon vor dem Abitur 1981 mit Wolfgang Lenk die Rockband „Phoenix“. Nach dem Armeedienst studierte Krumbiegel an der Leipziger Musikhochschule Schlagzeug und Gesang. „Die Prinzen“ wurden weithin bekannt u.a. mit den Singles „Millionär“, „Gabi und Klaus“ und „Mein Fahrrad“.

2017 erschien Sebastian Krumbiegels Buch „Courage zeigen – warum ein Leben mit Haltung gut tut“, es folgten Lesungen u.a. mit Gregor Gysi u.a. und Auftritte mit den Rappern Eko Fresh und MoTrip. Krumbiegel engagiert sich in seiner Heimat u.a. für das Jugendfestival LEIPZIG. COURAGE ZEIGEN und als Unterstützer der Amadeu Antonio Stiftung. 2024 veröffentlichte er das Buch „Meine Stimme. Zwischen Haltung und Unterhaltung“. Für sein soziales Engagement wurde er u.a. mit dem Humanismus-Preis des Deutschen Altphilologenverbandes und dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Auch erhielt er den Bambi in der Sparte Musik National.

Anlässlich des 40-jährigen Bestehens des Wettbewerbs ‚Hörspiel des Monats‘ und des 30-jährigen Bestehens der Wahl ‚Hörspiel des Jahres‘ ist Ende vorigen Jahres der Sammelband „Seismographie des Hörspiels“ erschienen (380 Seiten, Belleville Verlag Michael Farin). Das Buch enthält Texte von rund 80 Autorinnen und Autoren zu der Kunstform, die das Medium Radio originär hervorgebracht hat, und eine ausführliche Dokumentation über den Wettbewerb, der von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste veranstaltet wird, die auch Herausgeberin des Sammelbandes ist. Hier eine leicht modifizierte Version meines Textes. Ein anderer von Thilo Reffert findet sich hier.

Eine Leerstelle für nicht-technische Daten: Anmerkungen zur Hörspielkritik

von Jochen Meißner

„Wir lassen uns doch nicht von Kritikern unser Programm vorschreiben“, war die empörte Reaktion aus einer Hörspielabteilung, als wir zwei Hörspielkritiker, Frank Kaspar und ich, dieser Redaktion eine Serie über Arbeitswelten im Hörspiel vorgeschlagen hatten – so wurde es uns jedenfalls hinterbracht. Wir hatten vor, zu den einzelnen Stücken erläuternde Essays zu schreiben, die zusammen mit ergänzenden Hörspielausschnitten Analysen, Kontexte und O-Töne liefern sollten. Aus der Serie wurde also nichts, aber Ulrike Brinkmann, Dramaturgin bei Deutschlandradio Kultur (heute: Deutschlandfunk Kultur), ließ uns dann für ihren Feiertagstermin am 1. Mai eine 90-minütige Sendung produzieren, in die wir alles reinpackten, was eigentlich eine vierteilige Serie hätte werden sollen.

Der thematische Längsschnitt durch die Hörspielgeschichte begann mit den ersten Arbeiter- bzw. Arbeitslosenhörspielen aus der frühen Rundfunkgeschichte von Hermann Kasack und Karlaugust Düppengießer. Wir machten unter anderem Station in der frühen DDR bei Inge und Heiner Müller sowie in der Bundesrepublik der 1970er Jahre bei Erika Runge und Lisa Kristwaldt. Unsere Werkschau endete mit Stücken von René Pollesch, Gesine Danckwart und Kathrin Röggla aus dem gegenwärtigen deregulierten und globalisierten Kapitalismus. Den intellektuellen Überbau dazu lieferten der ehemalige Unternehmensberater und bildende Künstler Armin Chodzinski und der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl.

Die Sendung trug den einem Hörspiel von Hermann Kasack entlehnten Titel „Ich bin unterwegs zum Büro, ich bin unterwegs zu mir“ und machte hörbar, was Arbeitsverdichtung auch für den Rezipienten bedeuten kann: im besten Fall eine glückliche Erschöpfung. Und wenn schon nicht die dann doch wenigstens eine unterhaltsame Überforderung durch das Material und seine Aufbereitung. Man sollte sich bei seinen eigenen Stücken nie langweilen und sich außerdem nicht für schlauer halten als seine Hörer. Wer seine Ansprüche an das vermeintlich niedrigere Niveau des Publikums anpasst, hat schon verloren und außerdem ist das beleidigend für beide Seiten.

Kritiker machen Programm

Einen Termin allerdings gibt es, an dem sich eine Hörspielabteilung ihr Programm von Kritikern vorschreiben lässt. Es ist der erste Samstag im Monat, wenn der Deutschlandfunk das von der dreiköpfigen Jury der Akademie der Darstellenden Künste ausgewählte Hörspiel des Monats sendet. Damit haben die ausgewählten Stücke zumindest die Chance, Teil des kulturellen Gedächtnisses zu werden und sich nicht mit einer einmaligen Ausstrahlung versendet zu haben. Zusammen mit dem anschließenden Hörspielmagazin öffnet sich hier einer der wenigen Resonanzräume, in dem sich die Gattung Hörspiel ihrer selbst versichern kann.

Die Nominierungen zum Hörspiel des Monats sind ein harter Indikator für die Potenz des öffentlich-rechtlichen Hörspiels. Neun ARD-Landesrundfunkanstalten und das Deutschlandradio, also insgesamt zehn Sender, könnten in zwölf Monaten eigentlich insgesamt 120 Stücke nominieren – eine Zahl, die in den letzten Jahren nie erreicht wurde. Im Jahr 2015 waren es gerade mal 98 Stücke, die zur Wahl standen – und das nicht etwa, weil einzelne Sender schamhaft nicht auszeichnungswürdige Stücke zurückhalten würden, sondern weil sie in den betreffenden Monaten schlicht keine Neuproduktion vorzuweisen hatten. Und dabei handelt es sich nicht nur um die kleinen Sender, wie den Saarländischen Rundfunk (SR) oder Radio Bremen. Auch der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), immerhin eine Drei-Länder-Anstalt, fällt hier des Öfteren durch sogenannte Fehlanzeigen auf.

Alternative Fakten

In den beiden Jahren, in denen ich Teil der Jury zum Hörspiel des Monats sein durfte, 2002 und 2012, standen insgesamt 106 bzw. 100 Hörspiele zur Auswahl. Ohne zu viel aus der Jury-Arbeit auszuplaudern, kann ich sagen, dass wir (Sabine Wollwoski, Matthias Schümann und ich) im Jahr 2002 oft mit wechselnden Mehrheiten entschieden und mehrfach lobende Erwähnungen ausgesprochen haben. Bei einem waren wir uns jedoch sofort einig: welches Stück das Hörspiel des Jahres werden sollte. Es war die im Programm Bayern 2 ausgestrahlte Produktion „Die Stimme des Hörers“ des israelisch-stämmigen Künstlers Eran Schaerf (vgl. FK 4/03).

Eran Schaerf: Installation „Die Stimme des Hörers“. Bild: Adrian Sauer.

„Die Stimme des Hörers“ ist oberflächlich betrachtet ein sprödes und anstrengendes Stück. Zu hören war nur eine einzige Stimme. Eine Stimme, der zudem sämtliche Atmer weggeschnitten worden waren. Eine Stimme, die nicht einmal einem Schauspieler gehörte, sondern Peter Veit, dem Chefnachrichtensprecher des Bayerischen Rundfunks (BR). Der sprach nicht nur den „automatischen Moderator“ eines fiktiven Talkradiosenders, sondern auch dessen Anrufer und die Software, die den Sender steuerte. Wenn ein Anrufer versuchte, eine eigene Diskussion anzuzetteln, ersetzte die Software die Namen von Personen, Orten, Kriegen durch „Soundso“ oder fügte diesen Daten „Alternativen“ hinzu. 15 Jahre bevor Kellyanne Conway, Beraterin des seit Januar 2017 amtierenden US-Präsidenten Donald Trump, den Begriff „alternative Fakten“ propagierte, war er hier schon durchdacht worden.

Meines Wissens gehörte „Die Stimme des Hörers“ im Folgejahr zu den am wenigsten wiederholten Hörspielen des Jahres überhaupt. Doch allmählich wuchs (auch in den Dramaturgien) die Erkenntnis, dass diesem konzeptuellen Stück eine enorme Welthaltigkeit innewohnt, die konkret mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt im Äther (Streitigkeiten um Sendefrequenzen) zu tun hatte, aber in ihrer genauen Reflexion medialer Verhältnisse eine viel größere Reichweite hat. Dieses einer geneigten Hörerschaft erklären zu können, wie bei der Hörspiel-des-Jahres-Preisverleihung in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt, und zu spüren, wie sich Irritation in Erkenntnis verwandelte, gehörte zu den erfüllendsten Momenten in meiner Arbeit als Kritiker.

Dominiert wurde der Hörspieljahrgang 2002 von Serien und Mehrteilern: Fünfeinhalb Stunden „Baudolino“ von Umberto Eco (SWR/NDR), sieben Stunden „Prometheus“ von Franz Fühmann (MDR), neun Stunden „Moby Dick“ von Hermann Melville (BR) und als Krönung die 27 Stunden des Flüsse-Projekts des Hessischen Rundfunks – ein Abschiedsgeschenk für den in Pension gehenden HR-2-Hörspielchef Christoph Buggert, für das bei HR 2 das Pfingstwochenende für neun je dreistündige Features über die größten Ströme der Welt freigeräumt worden war.

Bei den Hörspielen des Monats des Jahres 2012 stellte sich die Situation ganz anders dar. Das längste Stück war mit 22 Stunden die Hörspieladaption des „Ulysses“ von James Joyce (SWR/Deutschlandradio Kultur). Der Rest Einzelstücke und ein paar wenige Zweiteiler. Berit Schuck, Rafik Will bildeten die Jury und wir entschieden übers Jahr hinweg weitgehend konsensual; nur beim Hörspiel des Jahres hatten wir diesmal ein Luxusproblem. Gleich vier Stücke erschienen uns preiswürdig, so dass wir zwei volle Jury-Sitzungen brauchten, um uns zu einigen. „Orphée Mécanique“ (Bayern 2) von Felix Kubin, „Und dann“ (Deutschlandradio Kultur) von Wolfram Höll, „Rotoradio“ (Deutschlandradio Kultur/WDR) von Ferdinand Kriwet und „Oops, wrong Planet!“ (Deutschlandfunk/WDR) von Gesine Schmidt waren in der engeren Wahl. Hörspiel des Jahres wurde schließlich die intelligente Fortschreibung des Orpheus-Mythos von Felix Kubin (Kritiki hier, Laudatio hier), aus der man außerdem einige Hitsingles hätte auskoppeln können.

Die Befreiung des Prometheus

Dass es Monate gibt, in denen eine Jury kein Stück für auszeichnungswürdig hält, kommt auch vor. In der 40-jährigen Geschichte des Wettbewerbs ‚Hörspiel des Monats‘ ist dies achtmal geschehen, erstmals im Juli 1982 und zuletzt im August 1998. Inzwischen ist es in den Statuten ausgeschlossen, den Preis nicht zu vergeben, wenn eine Mindestanzahl von Einreichungen vorliegt.

Der Oktober 1985 war ein Monat ohne Hörspiel-des-Monats. Am 3. Oktober jenen Jahres wurde im Programm HR 2 Kultur eine Koproduktion des Hessischen Rundfunks (HR) und des Südwestfunks (SWF) urgesendet. Ein „Hörstück in neun Bildern“, das den Ruhm seines Komponisten und Koautors in der Hörspielszene begründen sollte. Ein Stück, das den Hörspielpreis der Kriegsblinden und den Prix Italia bekommen sollte, und schließlich das Stück, das meine Leidenschaft für das Hörspiel entfacht hat: „Die Befreiung des Prometheus“ von Heiner Müller und Heiner Goebbels. Gehört habe ich das Stück erst viel später, als es im WDR-Hörfunk wiederholt wurde, und noch später fiel mir eine Schallplattenpressung in die Hände, die beim Kölner Label Riskant/Eigelstein erschienen war und auf der B-Seite das Hörspiel „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“ (HR) enthielt.

Heiner Müller / Heiner Goebbels: Die Befreiung des Prometheus. Riskant/Eigelstein 1986.

Seitdem habe ich versucht, alles zu hören, was von Heiner Müller zu bekommen war. Das war nicht einfach, denn im Internet vor der Erfindung des World Wide Webs war nichts zu finden. Schon gar nicht etwas, das man mit einem 56K-Modem hätte herunterladen können. Im Jahr 1990 ergab sich erstmals die Gelegenheit, sämtliche Hörspiele Heiner Müllers zu hören. Dafür musste man sich allerdings physisch nach Frankfurt am Main begeben, wo im Rahmen des Festivals „Experimenta 6“ in einem Zelt vor der Alten Oper alle Heiner-Müller-Hörspiele vorgeführt wurden. Müllers 1962 unter dem Pseudonym Max Messer vom Rundfunk der DDR produzierte Kriminalhörspiel „Der Tod ist kein Geschäft“ war auch dabei.

„Die Befreiung des Prometheus“ ist noch ein Stück aus der analogen Tonbandzeit, als Sampler und Sequenzer in der Hörspielproduktion noch exotisch waren und man für seine akustischen Ideen die Mittel noch selbst entwickeln oder wenigstens die vorhandenen Geräte gegen ihre Gebrauchsanweisung benutzen musste. Im Zuge der Digitalisierung und des Internets herrscht ein Überfluss an Mitteln und, so könnte man meinen, auch der Resonanzraum für das Hörspiel habe sich entsprechend vergrößert. Was die Verfügbarkeit aktueller Hörspiele angeht, trifft das zu. Über die Downloadzahlen und Klicks der entsprechenden Portale wie des BR-Hörspielpools oder des WDR-Hörspielspeichers braucht man sich nicht zu beklagen. Im Angebot des öffentlich-rechtlichen Radios ist das Hörspiel alles andere als ein Nischenprodukt.

Resonanzräume des Hörspiels

Was aber die fundierte Auseinandersetzung mit dem Hörspiel angeht, spiegelt das Netz nur die Offline-Medienlandschaft wider, in der die Presse das Hörspiel – anders als Theater, Film oder Fernsehen – nur punktuell im Blick hat. Und wenn ein ahnungsloser Medienseitenredakteur mal ein Hörspielthema ins Blatt hebt (das Feuilleton fühlt sich offensichtlich für die Gattung nicht zuständig), dann kann man fast darauf wetten, dass da entweder ein „neuer Trend“ ausgerufen oder wahlweise eine „Renaissance des Hörens“ gefeiert wird – beides Formulierungen, die dringend auf den Index für Medienredakteure gesetzt werden müssten, zusammen mit dem Epitheton „renommiert“, mit dem der, so Klaus Ramm, „einstmals begehrte Hörspielpreis der Kriegsblinden“ für gewöhnlich apostrophiert wird.

Die ursprüngliche Idee, durch den Wettbewerb ‚Hörspiel des Monats‘ mittels der Institutionalisierung einer monatlichen Auszeichnung den Resonanzraum des Hörspiels zu erweitern, ist heute so richtig wie 1977. Allerdings haben sich die medialen Rahmenbedingungen geändert. Beispielsweise erscheint seit 2015 der 1953 als „Funkkorrespondenz“ gegründete Fachdienst „Medienkorrespondenz“, das Referenzorgan für Hörspielkritik, statt wöchentlich nur noch alle 14 Tage, was eine Halbierung der Anzahl der Hörspielkritiken nach sich gezogen hat. Konstant geblieben ist nur die Ignoranz der Tagespresse. Eine vielgelobte Ausnahme, das „Radiotagebuch“ der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, wurde wegen der einbrechenden Werbeeinnahmen nach dem Platzen der Dotcom-Blase schon vor langer Zeit eingestellt. Deshalb hatten wir uns als Jury für das Hörspiel des Monats 2012 entschieden, ein eigenes WordPress-Blog aufzusetzen, das unsere Entscheidungen dokumentieren und zusätzliche Rezensionen zu den nominierten Stücken anbieten sollte. Leider hat nur die Jury des Jahres 2014 diese Arbeit fortgesetzt. Das Blog ist dann in anderer Form in dieser Seite hoerspielkritik.de aufgegangen.

Seinen kritischen Resonanzraum hat das Hörspiel weiterhin vorwiegend im Radio selbst, auch wenn es dort kaum dedizierte Sendeplätze dafür gibt. Und damit kommen wir zu einem weiteren Problem. In keinem künstlerischen Bereich können sich die Produzenten ihre Kritiker direkt oder indirekt selbst aussuchen – außer beim Hörspiel. Die Juroren, die das Hörspiel des Monats bestimmen können, werden vom gastgebenden Sender vorgeschlagen. Ohne die ARD gäbe es keine Kritikerrunde auf den Karlsruher Hörspieltagen und keine Jury des Deutschen Kinderhörspielpreises. Im Prinzip ist das sogar zu verstehen: „Wer soll’s denn machen, wenn wir’s nicht machen?“ ist die implizite Frage, die sich die Verantwortlichen gestellt haben.

Allzu häufig aber war die Antwort auf diese selbstgestellte Frage, nicht etwa, in die Tiefe zu gehen, sondern in die Breite. Statt Fachkritiker holte man sich lieber Berühmtheiten aus dem Kulturbetrieb in die Jurys. Fernsehproduzenten und Zeitungsredakteure waren dabei, ebenso wie Literatur-, Theater-, Film-, Musik- oder Medienwissenschaftler. Für viele hat sich dabei mit dem Hörspiel eine neue Welt aufgetan, die sie meist engagiert erkundeten. Doch auf die Dauer hat es sich nicht als gute Idee erwiesen, einen Architekturwettbewerb von wechselnden Landschaftsgärtnern und Stadtplanern entscheiden zu lassen, die auch eine Meinung dazu haben, wie ein schönes Gebäude auszusehen hat.

Unteridische Verbindungen

In der Installation zum Hörspiel „Die Stimme des Hörers“ hat Eran Schaerf ein Testbild projizieren lassen. Ein Bild also, mit dessen Hilfe man die technischen Parameter von Sender, Übertragungsweg und Empfänger überprüfen konnte. Das Zentrum dieses Testbildes blieb frei und enthielt, so Schaerf, eine „Leerstelle für nicht-technische Daten“. Dieser Raum des Poetischen wäre ohne die technische Rahmung, zu der auch die institutionellen Rahmenbedingungen, die Normierungen und Formatierungen gehören, nicht existent. Sich dieser medialen Bedingungen bewusst zu sein, ist nicht nur das Kennzeichen eines guten Hörspiels, sondern vor allem die Voraussetzung einer Medien- und hier im Besonderen einer Hörspielkritik, die sich selbst und ihren Gegenstand ernst nimmt.

Von diesem Standpunkt aus lässt sich dann auch eine unterirdische Verbindung zwischen den beiden Hörspielen des Jahres herstellen, an deren Auszeichnung ich mitwirken durfte. Beide sind sich ihrer medialen Verortung sehr bewusst, das eine unter einem Himmel voller Frequenzen, das andere in einem mythischen Raum am Ursprung des Medialen. Beide Stücke befinden sich an den äußersten Punkten einer Skala, die am einen Ende eine maximal distanzierte, spröde Eleganz vermerkt und an deren anderem Ende eine Einladung zum Tanz auf einer Welle maximal eckiger Klänge notiert ist. Für beide Stücke gilt der Satz, den Rafik Will anlässlich der Auszeichnung von Felix Kubins Hörspiel „Orphée Mécanique“ geprägt hat: Wenn alles Sagbare gesagt ist, muss das Denkbare vertont werden.

 

 Seismographie des Hörspiels. 40 Jahre Hörspiel des Monats 1977–2017, 30 Jahre Hörspiel des Jahres 1987–2017 Hrsg.: Christoph Buggert, Deutsche Akademie der darstellenden Künste. München (belleville Verlag Michael Farin) 2017.  [ISBN 978-3-946875-21-5]
Seismographie zum Hören? Hier!

https://hoerspielkritik.de/im-raum-des-poetischen/

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